Als Begründer der modernen wissenschaftlichen Disziplin der Psychologie kann – trotz einiger Vorläufer – Sigmund Freud gelten. Während im 19. Jahrhundert divergierende psychologische Konzepte diskutiert wurden, die großenteils auf medizinischen beziehungsweise körperlichen Phänomenen beruhten, war Freud der erste, der in der menschlichen Seele eine Struktur erkannt hat und ein autonomes Agieren. Diese Autonomie beschrieb Freud mit dem Bonmot „der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus“. Damit wollte er verdeutlichen, daß das von ihm formulierte UnbewußteSinnbildlich unterhalb des Bewußtseins verortet, daher der Oberbegriff Tiefenpsychologie. alles bewußte Denken und Wollen jederzeit durchkreuzen kann und es eigene – eben autonome – Ziele verfolgen würde, die dem Bewußtsein nicht oder nur über Umwege – vor allem über TräumeDie Traumdeutung, veröffentlicht 1899, war Freuds Manifest zur Begründung seiner Psychoanalyse. - erschlossen werden könnten.
Freuds Ideen waren umstritten, aber ungemein attraktiv und in sich schlüssig – und sie sind es bis heute. Schnell folgten weltweit Ärzte, Psychiater, Philosophen und Künstler seinen Ideen, die in der sogenannten „Psychoanalyse“ ihre Darstellungsform fanden. Zahlreiche Wissenschaftler der nächsten Generation unterhielten enge Kontakte zu Freud und übernahmen seine Ideen. Zwei von ihnen – C. G. Jung und Alfred Adler – übertrafen viele andere Mitstreiter an inhaltlicher Tiefe und Prominenz. Bemerkenswert, daß genau diese beiden von Freud aus seinem sehr exklusiven Zirkel regelrecht „exkommuniziert“ wurden!
Während Adler großen Einfluß auf die Sozialpsychologie hatte (Stichwort: "Minderwertigkeitskomplex" Bezeichnet im engeren Sinne das Verhältnis von Individuum zum Kollektiv. ), erweiterte C. G. Jung die Theorien Freuds und veränderte von Freud eingeführte Begrifflichkeiten und ihre Bedeutungen. Zwei dieser Veränderungen möchte ich an dieser Stelle hervorheben:
Polares beziehungsweise komplementäres, also ergänzendes Denken bildet die Grundlage aller Theorien Jungs: Es braucht zwei gegenüberliegende Pole, zwischen denen sich alle Abstufungen und Bewegungen eines Themas entwickeln. Es braucht die Geburt und den Tod, um dazwischen das (irdische) Leben sich entwickeln und ablaufen zu lassen. Und es braucht eine ideell männliche und eine ideell weibliche Energie, zwischen denen sich alle Abstufungen der jeweiligen Attribute formieren können. Dieses abstrakt-ideelle „Männliche an sich“ nennt Jung den Animus, und das weibliche Gegenstück Anima Anima für: belebt, lebhaft, lebendig. . Es handelt sich hierbei nicht um reale „Männer“ und „Frauen“, sondern um nicht-körperliche, nicht-persönliche seelische Bilder von männlichen und weiblichen Prinzipien. Diese Polarität trägt jeder Mensch in sich, und in aller Regel stimmen die körperliche Ebene und die Ebene des Bewußtseins geschlechtlich überein, während der gegengeschlechtliche Anteil Träger des Unbewußten ist. Die meisten Männer verfügen also über ein männliches Bewußtsein, während ihr Unbewußtes weiblich ist: Jung spricht von der Anima des Mannes.
Für viele Männer ist dies eine ungewohnte, für einige eine provokative oder sogar ablehnenswerte Theorie. Bei genauerem Hinsehen auf Empfinden und Verhaltensweisen wird jedoch sehr schnell deutlich, daß die „Stolpersteine“ im Leben des Betreffenden eben deswegen oft als lästig, hinderlich, bedrohlich oder gar krankhaft eingestuft werden, weil sie eben Äußerungen der unbewußten – weiblichen – Anima sind, die vom männlichen Bewußtsein nicht gesehen werden kann – oder nicht gesehen werden will! Und die sich deswegen Mittel und Wege sucht, um ihrer Autonomie (siehe oben) Geltung zu verschaffen.
Was also tun? Niemand kann sich von seinem Unbewußten trennen oder auch nur distanzieren. Und zum Schweigen bringen läßt sich die Anima ebenfalls nicht, sie verfügt über eine unbegrenzte Energie. Bleibt nur eins: Mit der Anima ins Gespräch zu kommen! Dieser Prozeß, die Anima als Trägerin des Unbewußten nicht zu ignorieren oder zu maßregeln, sondern sie zu Wort kommen zu lassen und ihr einen Freiraum zu bieten, führt schrittweise zu einem seelischen Ausgleich: Der Anima kommt Gewicht zu, und somit bringen sich männliches Bewußtsein und weibliches Unbewußtes – im Idealfall – in ein ausgeglichenes Verhältnis, wie bei einer klassischen Waage, deren Schalen im Ruhemodus auf gleicher Höhe schweben und die dennoch immer ein wenig zur einen oder anderen Seite auf- und absteigen.
Solange die Anima nicht gesehen und berücksichtigt werden kann, bleiben Selbst- und Fremdbild in unpersönlichen Mustern stecken; es werden „Klischees bedient“. Individuation bedeutet nun, diese tradierten, aber oftmals lebensfernen Muster aufzulösen: Zugunsten einer ganz eigenen, hochindividuellen Kombination aus bewußten und unbewußten, männlichen und weiblichen Persönlichkeitsanteilen. Aus den jeweiligen – individuellen – Inhalten von Anima und Animus ergeben sich unendliche Kombinationen, und erst die Bewußtmachung der ganz eigenen, also „in-dividuellen“, sprich: „un-teilbaren“ Ausgestaltung hebt den einen Menschen von allen anderen ab, macht ihn zum echten Individuum.
Dieser Prozeß – Individuation genannt - erfordert Bereitschaft und Öffnung des Klienten, das Unbekannte zuzulassen, neue Wege zu erforschen und Gewißheiten infragezustellen.
Als zweites Beispiel der Vertiefung Freudscher Theorien durch C. G. Jung möchte ich das kollektive Unbewußte erläutern. Freud hat diesen vorher nur diffus existierenden Begriff mit einer stringenten Theorie gefüllt. Sie bestimmt unser Leben bis heute maßgeblich, obwohl sie von vielen Personen letzlich ignoriert oder gar abgelehnt wird. Zu „gefährlich“ scheint die Vorstellung, daß es innerhalb eines modernen, vernünftigen Menschen eine Instanz geben soll, die unbemerkt und „unbewußt“ die verrücktesten Dinge will und antreibt und damit dem bewußten Denken und Handeln fortwährend Steine in den Weg legt.
Während Freud diese Instanz als eine rein „persönliche“, d. h. individuelle Angelegenheit verstanden hat, formulierte Jung die Theorie, daß es unterhalb des persönlichen Unbewußten noch eine weitere Ebene, nämlich das „kollektive Unbewußte“ gebe. Dies war Ergebnis seiner Forschungen, die ihn mehrfach um den ganzen Erdball reisen ließen: Er wollte die Psychologie von Ethnien verstehen, die von den nordwestlichen beziehungsweise europäischen und nordamerikanischen möglichst weit entfernt sind. Seine Theorie geht dahin, daß es einen seelischen „Urgrund“ zu geben scheint, eine Art Sammlung innerer Bilder (Jung nennt das „Bildhafte“ die Sprache der Seele; im Gegensatz zu den „Worten“ als Sprache des Bewußtseins). Diese Bilder sind, so Jung, offensichlich unabhängig von Zeit, Ort und Kultur in allen Menschen vorhanden.
Während das persönliche Unbewußte in vielen Fällen der Bewußtwerdung zwar als unangenehm, aber immerhin vertraut empfunden wird, rufen Inhalte des kollektiven Unbewußten regelmäßig Gefühle von Unverständnis oder oftmals sogar von massiver Bedrohung der eigenen Person hervor. Einzelne Inhalte offenbaren sich häufig in sogenannten Albträumen, deren Stimmungen und Bilder als unheimlich, befremdlich oder verstörend empfunden werden. Wird die ordnende Ich-FunktionNach Freuds Instanzenlehre die seelische Ebene, die Über-Ich und Es den Anforderungen der Realität anpaßt. brüchig, zum Beispiel im Rahmen einer Schizophrenie Die vermutlich schwerstwiegende psychische Störung, hervorgerufen durch einen Zusammenbruch der Ich-Instanz., gelangen die Inhalte des kollektiven Unbewußten praktisch ungefiltert in den Alltag der betreffenden Person; sie wird sich selbst fremd, bei klarem Bewußtsein. Bezugspersonen erkennen den Schizophrenen während der Episode nicht wieder, und der Betreffende selbst weiß nach einer Episode zwar, was passiert ist, aber er kann die Geschehnisse anschließend in aller Regel nicht mehr verstehen oder interpretieren.
Nach C. G. Jung ist jeder Mensch fähig zur Psychose (Oberbegriff für schizophreniforme Syndrome), ohne einen solchen Zustand zwangsläufig erleben zu müssen. Liegt nicht die seltene Form einer Schizophrenie vor, finden wir im normalpsychischen Bereich häufiger Ausnahmezustände wie traumatische Erfahrungen, Schock und Schreckerlebnisse, die kollektive Inhalte zutage fördern. Häufiger finden sich kollektive Inhalte in Traumbildern, wenngleich nicht alle Traumerlebnisse kollektiv sind; häufiger werden persönlich-unbewußte Inhalte auftauchen und erinnert.
Das von Freud erstmalig in der Geschichte formulierte Konzept der Traumdeutung erfuhr nicht zuletzt durch die oben erwähnten Abläufe eine Modifikation durch Jung.
Deshalb verfolgen die Psychoanalyse nach Freud und die Analytische Psychologie nach Jung heute ein jeweils eigenes Konzept der Trauminterpretation.
Die bild- und stimmungshaften Momente des Traumgeschehens werden im Rahmen einer analytischen Psychotherapie gemeinsam von Klient (dem Analysand) und Therapeut auf ihre individuelle und kollektive Bedeutung hin untersucht. Auch diese sogenannte Traumarbeit ist wesentlicher Bestandteil der bereits erwähnten Individuation. Mit der Bewußtmachung von Persönlichem und Unpersönlichem wird – ähnlich wie bei der Arbeit mit Animus und Anima – eine Schärfung, eine Verdeutlichung der ganz eigenen seelischen Disposition erreicht.
Die schrittweise Bewußtwerdung der bislang verborgenen Komponenten der eigenen Persönlichkeit greift in alle Bereiche der Persönlichkeit aus: Denken, Empfinden, Fühlen und Verhalten gewinnen nach und nach ein neues Fundament – sie gründen nicht mehr auf Mutmaßungen oder Wünschen, sondern auf darstellbaren, mitteilbaren inneren Erfahrungen. Erlebnisse, die bislang als störend, ablehnenswert oder bedrohlich interpretiert wurden, verändern oft ihren Charakter: Sie können als Wünsche des Unbewußten, der Anima, interpretiert und akzeptiert, innere Konflikte können ausgeglichen werden. Je tiefer dieser Prozeß verstanden und in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden kann, desto eher wird sich diese innere Balance in ein vorausschauendes, konstruktives Gestalten in der Außenwelt niederschlagen.